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Thema: Nationalstaatskonzept und Minderheitendiskriminierung (http://enthinderung.de/topic.php?id=125)


Geschrieben von: 55555 am: 31.03.12, 13:32:54
Zitat:
Was macht die Transformation der Imperien in Nationalstaaten zu einem Problem?

Mit dem Wandel rückt das Motiv der Vergleichbarkeit in den Vordergrund. Im Nationalstaat stellt sich die Frage, welche Sprache massgeblich gesprochen wird, zudem sorgt die Industrialisierung für eine Homogenisierung von Lebensverhältnissen, und Rechtsgleichheit wird zur beständigen Forderung. Wenn es keine Gleichheit gibt, wie in der vormodernen Ordnung, wo die Menschen in Ständen und Korporationen lebten, bietet sich die Frage des Vergleichs gar nicht an. Erst mit der Durchsetzung der Gleichheit im Gefolge der Französischen Revolution und im Verlaufe des neunzehnten Jahrhunderts treten ja die Probleme des Unterschiedes auf, weil Menschen sich jetzt vergleichen können auf der Grundlage der formalen Gleichheit.

Das ist die Dialektik der Aufklärung als Dialektik der Gleichheit: Man will eigentlich Antidiskriminierung, schafft aber mit der Möglichkeit des Vergleichs auch die Basis für Diskriminierung.

Diese Dialektik der Gleichheit ist eigentlich der Schlüssel zum Verständnis der modernen Judenfrage, die wiederum Schlüssel zum Verständnis der Moderne wird. Am Institut betrachten wir die jüdische Existenzerfahrung als Paradigma für die Moderne und ihre Verwerfungen.

Resultiert die Gefährdung der Juden daher, dass sie sich schwerer als andere assimiliert haben? Sonst wären sie doch nicht exponiert gewesen?

Das kann man nicht sagen. Die anderen brauchten sich ja nicht zu assimilieren. Im islamischen Orient gab es Gruppen unterschiedlichster Religion und Provenienz. In Europa waren die Juden die einzige nichtchristliche Bevölkerungsgruppe. Diese singuläre Differenz hat zur Definition der nichtjüdischen Bevölkerung mit beigetragen, zu deren Selbstverständnis. Das berührt auch den Antijudaismus. Das antijudaistische Element säkularisiert sich, und die sogenannte Judenfrage wird zur Frage des christlichen Staates und überhaupt des Gemeinwesens. Als Marx seine Schrift zur Judenfrage publizierte, da ging es ihm weniger um die Juden, sondern mehr um die Fragen des Staates, der Gleichheit und der Neutralisierung der Religion. Geistesgeschichtlich und staatsrechtlich gesehen waren die Juden, unabhängig von ihrer geringen Zahl, ein Seismograf für grundsätzliche Fragen der Moderne.

Quelle