Und hier der Fall Blinde vs. relativ wenig Bewegliche:
Zitat:
Vor kurzem erst war ich in Hamburg auf einem Seminar, wo es um "Neuerungen" zu genau diesem Thema ging. Fazit: es gibt immer noch keine bundeseinheitliche Regelung, wie genau beispielsweise eine Straßenüberquerung auszubauen ist.
Das Hauptproblem ist immer noch das Gleiche wie vor 10 Jahren. Die Anforderungen der Seh- und der Gehbehinderten an Barrierefreiheit sind zu 100% gegensätzlich. Sehbehinderte brauchen eine hohe Kante und Absätze an denen Sie sich entlangtasten können. Gehbehinderte brauchen ebene Flächen und sogenannte Nullabsenkungen. Diese Nullabsenkungen stellen für den Sehbehinderten eine Gefahr dar, die abgesichert werden muss.
In den letzten Jahren gab es Unmengen an verschiedenen Kompromiss-Ideen, an Möglichkeiten der baulichen Absicherungen, etc. Alle sind gescheitert, weil sie entweder für eine der beiden genannten Parteien nicht praktikabel waren oder schlicht und ergreifend soo unglaublich aufwendig, dass keine Kommune in Deutschland sich so einen Ausbau flächendeckend leisten kann.
Keine Angst, ich habe nicht vor, hier die Art und Weise des Ausbaus zu diskutieren. Dafür gibt es bei Leibe schon genug Gremien, die auch seit Jahren zu keinem Ergebnis kommen. Ich hatte auf dem o.g. Seminar, beim gelangweilt aus dem Fenster schauen eine Idee, die ich gern mal in einem technikaffinen Forum wie diesem loswerden wollte.
Ich bin zu der Überzeugung gelangt, dass man bisher keine Lösung für Geh- UND Sehbehinderte gefunden hat, weil es keine gibt. Die Ansprüche sind einfach zu unterschiedlich. Dann habe ich mir überlegt, dass der Ausbau unglaublich simpel wäre, wenn man die Blinden aus der Gleichung streichen könnte (bitte nicht falsch verstehen). Die Anforderungen der Gehbehinderten nach vielen Nullabsenkungen sind leicht und billig flächendeckend herzustellen. Außerdem würde der Hauptkostenfaktor, das Blindenleitsystem mit seinem wirklich häßlichen Schachbrettdesign verschwinden. Wie gesagt, bitte nicht falsch verstehen. Ich habe höchste Achtung vor Menschen, die mit einer Sehbehinderung durch Leben gehen müssen. Mein Job ist es aber, alle Seiten zu betrachten.
Meine nächste Frage war: Was brauchen Sehbehinderte eigentlich wirklich? Brauchen sie wirklich taktile Blindenleitsysteme im Straßenraum? Nein, ich glaube nicht. Die Sehbehinderten wollen allein unterwegs sein und ohne Hilfe jederzeit wissen, wo sie sind und in welche Richtung es weitergehen soll. Warum sollte man soetwas im Zeitalter der Navigationssysteme so kompliziert auf den Boden bauen?
Was stelle ich mir vor und welche Probleme sehe ich?
1. Das Gerät muss überall, auch in hohen Häuserschluchten, eine sehr genaue Lokalisierung des Sehbehinderten ermöglichen. Hier muss ein genaueres GPS-System verwendet werden, als die Standard Autonavigation. Ich weiss, dass Vermessungsingenieure mit Geräten arbeiten, die eine Genauigkeit im Millimeterbereich haben. Außerdem müssen die Geräte Zugriff auf mehrere Datenquellen haben. Z.B. Standortbestimmung über Funkmasten oder öffentliche W-LAN-Netze, etc.
2. Das Gerät muss einen irgendwie geartetetn Kompass enthalten um exakt zu erkennen, in welche Richtung der Blinde gerade läuft bzw. laufen muss.
3. Hier sehe ich das Hauptproblem. Das Gerät muss über unglaublich exakte Kartendaten verfügen. Es müssen millimetergenaue und permament aktualisierte Daten über jede Straße und jeden Bordstein vorhanden sein.
4. Es muss eine Software geschrieben werden, die im Gegensatz zu normalen Navigationssystemen den Output komplett über den Kopfhörer/Ohrstecker ausgibt. Zum Beispiel:
"Sie stehen gerade an der Ecke Dingsstraße und Bumsweg. Um die Straße zu überqueren gehen Sie 4 m in der aktuellen Richtung und drehen sich dann um 30°. Diese Kreuzung verfügt über eine blindengerechte Lichtsignalanlage."
oder
"Sie befinden sich in der Rathausstraße auf Höhe der Hausnummer 25. In direkter Umgebung befindet sich die Bushaltestelle Rathaus. Für Angaben zum Fahrplan drücken Sie Knopf A."
Fazit:
Ich stelle mir eine Mischung aus Navigationssystem und Museumsguide vor. Die Technik dafür gibt es schon. Vermutlich nur noch nicht in einem Gerät und für den Massenmarkt. Die Kartendaten gibt es in dieser Genauigkeit meines Wissens bisher nicht. Die Software sollte für einen engagierten Coder keine Schwierigkeit darstellen.
Das charmanteste an meiner Idee ist, dass die Finanzierung einer solchen Lösung quasi schon gesichert ist. Das Geld, dass man durch die Quadratkilometer an baulichem Blindenleitsystem einspart könnte zur Entwicklung des Systems und der Ausstattung der Sehbehinderten verwendet werden. Sowas vollständig durchzurechnen wäre aber Job der Kaufleute. Nur als Anmerkung, 1 m² Blindenleitsystem kostet inkl. Einbau derzeit etwa 150 Euro.
Ich fände es nett wenn ihr ein paar Meinungen abgeben würdet. Außerdem wäre es wunderbar wenn ihr Äußerungen wie "Das ist eine schwachsinnige Idee." lassen könntet. Ich bevorzuge Äußerungen wie "Das ist eine schwachsinnige Idee, WEIL ...."
[...]
Der 3cm-Kompromiss ist mir bekannt und wird von uns auch immer noch regelmäßig eingebaut. Es ist bau- und kostentechnisch schlicht die günstigste Lösung.
Hierbei wird davon ausgegangen, dass eine Kante von 3 cm für Blinde gerade noch ertastbar ist und für Rollstuhlfahrer gerade noch überfahrbar. Das hat sich in den letzten Jahren aber leider als Trugschluss herausgestellt.
Problem 1:
Die Überfahrbarkeit war zum Zeitpunkt der Einführung des Kompromisses für die relativ großen Räder der Rollstühle gedacht und gewährleistet. Das Anforderungsprofil hat sich in den letzten Jahren allerdings geändert. Seit etwa 5 Jahren ist das in Deutschland meist "zugelassene" Kfz der Rollator. Die Räder sind sehr klein und damit nicht in der Lage eine 3 cm Schwelle zu überrollen. Der Rollator muss angehoben werden. Dazu sind viele Nutzer nicht mehr in der Lage. Außerdem muss gewährleistet werden, dass sowohl Rollstuhl als auch Rollator schnell über die Schwelle kommen, damit sie nicht noch zusätzlich durch eine hohe Verweildauer auf der Fahrbahn gefährdet werden.
Problem 2:
Der Kompromiss funktionierte auch nur wenn wirklich exakt 3 cm gebaut wurden. An den meisten Querungen verläuft vor dem Bord eine Entwässerungsrinne. In Bereichen mit unzureichendem Längsgefälle in der Straße (große Teile Norddeutschlands) muss, um die Entwässerung sicherzustellen, mit Pendelrinnen gearbeitet werden. Das bedeutet, dass der Auftritt bis zu 5 cm variiert und damit den 3cm-Kompromiss ad absurdum führt.
Problem 3:
Es gibt sehr viele verschiedene Blindenorganisationen. Jede davon fühlt sich bemüßigt, eigene Vorstellungen zur Ausbildung von Überquerungsstellen zu veröffentlichen. Einige akzeptieren die 3cm als funktionierenden Kompromiss. Andere sagen, dass 3 cm viel zu wenig sind um sie hinreichend sicher ertasten zu können und fordern mindestens 6 cm hohe Kanten. Gleiches gilt natürlich für die diversen Vertretungen der Gehbehinderten. Genau das meinte ich, als ich von einer fehlenden, bundeseinheitlichen Regelung sprach. Solange jeder Behindertenverband seine eigenen Forderungen aufstellt und die verschiedenen Fachgremien am Bedarf und an der Realität vorbeiplanen, baut jedes Bundesland und jede Stadt ein anderes System. Das einzige Ergebnis ist die völlig Verwirrung von Planern und Nutzern. Dazu kommen die notorisch klammen Kassen der einzelnen Kommunen. Wir sind also immer noch nicht weiter als vor 10 Jahren.
[...]
Ich kenne mich ziemlich gut mit den deutschen Ansätzen aus. Im europäischen Ausland gibt es soweit ich weiss Bestrebungen, die alle in eine ähnliche Richtung gehen. Die Schweiz arbeitet beispielsweise mit ertastbarer Markierung quer über die Straße. Das ist in der Herstellung merkbar günstiger, aber in der Unterhaltung deutlich teuerer, da es regelmäßig abgefahren wird und somit häufig erneuert werden muss. Außerdem wäre sowas mit der aktuellen deutschen StVO nicht vereinbar.
(mit Erlaubnis von woanders zusammenkopiert)