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Die AOK Niedersachsen will ihre gesamten Schizophrenie-Patienten in die Obhut einer Pharmafirma geben. Doch die Kranken spielen nicht mit. Das dürfte das Aus für den umstrittenen Großversuch bedeuten.
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Dass ein Pharmaunternehmen überhaupt ein IV-Projekt leiten kann, wurde nur durch eine Gesetzesänderung der schwarz-gelben Koalition in Berlin möglich. "Die Pharmaindustrie ist genauso ein Leistungserbringer wie ein Arzt oder ein Krankenhaus", sagt ein Sprecher von Bundesgesundheitsminister Daniel Bahr (FDP). "Es ist nicht so, dass die Pharmafirma neben dem Krankenbett steht und dem Arzt sagt, welches Medikament er verordnen soll."
Die Patienten in Niedersachsen würden nicht zwangsweise auf Medikamente der Pharmafirma Janssen-Cilag umgestellt. Jürgen-Helmut Mauthe, Professor für Psychiatrie an der Universität Braunschweig und Vorsitzender des Landesfachbeirats für diese Fachrichtung, führt die Gesetzesänderung jedoch eindeutig darauf zurück, dass FDP-Bundesminister die Ressorts für Gesundheit und Wirtschaft führen. Der heutige Wirtschaftsminister Philipp Rösler habe die Änderung in seiner Zeit als Gesundheitsminister vorbereitet, und Bahr setze sie um.
In Niedersachsen hatte die Firma Janssen-Cilag die Ausschreibung für das Projekt der AOK gewonnen. Neun Unternehmen hatten sich beworben. Janssen-Cilag, eine Tochter des US-Konzerns Johnson & Johnson, stellt eines der umsatzstärksten Medikamente gegen Schizophrenie her. Vertragspartner der AOK ist die Firma I3G, die Janssen-Cilag gehört. Die Versorgung der Kranken vor Ort übernimmt eine weitere Tochter mit dem Namen Care4S.
Nach Beobachtung von Thomas Zauritz, Geschäftsführer des AWO-Psychiatriezentrums in Königslutter bei Braunschweig, versucht Care4S, die Kosten dadurch zu drücken, dass die Betreuung von den Ärzten auf die Pflegekräfte verlagert wird. Auch Frank Preugschat von der AOK räumt ein: "Am Anfang hatten wir Schwierigkeiten mit Care4S. Die wollten ihren Vertrag mit möglichst wenigen Mitarbeitern erfüllen. Da mussten wir die Geschäftsführung austauschen." AWO-Geschäftsführer Zauritz sagt jedoch, dass die Kostendrückerei bis heute anhalte.
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Peter Falkai, Präsident der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie und Nervenheilkunde, sagt: "Ich habe generell nichts gegen IV. Auf lokaler Ebene gab es gute Projekte zum Beispiel in Berlin und Aachen." Wenn aber Krankenkassen Kosten senken wollten und dazu Pharmafirmen einspannten, sei eine Grenze überschritten: "Sie wollen die Kränksten behandeln und dabei auch noch Geld sparen - das muss schiefgehen."
Für Falkais Fachkollegen Mauthe ist das Projekt von Janssen-Cilag "der Versuch, einen Fuß in die Tür zu bekommen". Das Unternehmen verfolge Gewinnmaximierung, das müsse sich auf die Patientenversorgung auswirken. "Das ist, als ob die Herzklappenhersteller die Herzchirurgie betreiben würden." Auch die Manager von I3G hätten ihm in Gesprächen sein Misstrauen nicht nehmen können. Gerade die Psychiatrie sei für solche Experimente denkbar ungeeignet, sagt Mauthe: "Schizophrene Menschen organisieren sich kaum, sie wehren sich leider nicht, auch wenn sie schlecht behandelt werden."